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Diskriminierende Gesetze & untergrabene Rechte

Rechtliche Rahmenbedingungen und das Wohnalltag von Sans-Papiers in Zürich
Christian, Edita, Efehan, Joel, Madleina, Sarah, Strahinja & Timur, Juli 2023

Im Rahmen eines kollaborativen Forschungsprojekts mit der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) haben Studierende zusammen mit Sans-Papiers zum Thema Wohnen in Zürich geforscht. Der Fokus unserer Gruppe lag auf rechtlichen und politischen Aspekten des Wohnens. Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, wie die Widersprüche innerhalb der Gesetzeslandschaft die Wohnstrategien von Sans-Papiers in Zürich prägen. Wir haben Daten über die Wohnstrategien von Sans-Papiers erhoben, um darin enthaltene Konflikte und Wechselwirkungen zwischen dem rechtlichen Rahmen und der gelebten Praxis zu identifizieren. Neben einer Literaturrecherche wurden 16 qualitative Interviews mit solidarischen Organisationen und Privatpersonen, Sans-Papiers und Rechtsexpert:innen durchgeführt. Diese wurden anschliessend transkribiert, kodiert und analysiert. Folgende Ergebnisse möchten wir hier zusammengefasst präsentieren:

Die Wohnstrategien, sowohl zum Finden als auch zum Halten von Wohnraum, sind an verschiedene Arten von Netzwerken gekoppelt; Sans-Papiers finden über Verwandte, Freund:innen, Lebens-partner:innen, andere (entfernter bekannte) Sans-Papiers, offizielle Organisationen oder über Privatpersonen Wohnraum. Häufig ba-sieren diese Netzwerke auf solidarischen Beziehungen; es gibt jedoch auch viele Fälle, in denen Sans-Papiers bei Arbeitge-ber:innen wohnen und dabei potentiell ausbeuterischen Konditionen ausgesetzt sind.

Diese Netzwerke können direkte oder indirekte Unterstützung leisten: Bei direkten Unterstützungsformen wird direkt Wohnraum zur Verfügung gestellt, beispielsweise durch Notschlafstellen, Zwischennutzungen oder Untermieten von Drittpersonen. Indirekte Unterstützungsformen beinhalten den Zugang zu spezifischem Wissen, etwa durch Beratungen, Rechtshilfe oder die Weiterver-weisungen an Hilfestellen.

Je nach genutztem Netzwerk und angewandter Wohnstrategie ergeben sich unterschiedliche Wohnformen. Diese reichen von Wohngemeinschaften über Untermieten und Notunterkünfte bis zu Live-In Verhältnissen bei Arbeitgebenden.

Es zeigt sich, dass die meisten Wohnsituationen eher temporärer Natur sind, was eine ständige Anpassung und Spontanität von den Sans-Papiers erfordert. Die Dauer der Wohnverhältnisse wird durch die in Zürich vorherrschende Wohnungskrise weiter verkürzt. Weil Sans-Papiers aufgrund ihres Status kaum Widerstand gegen Ver-drängung leisten können, sind sie in dieser Krise besonders vulnerabel.

Ein zentraler Aspekt und wichtiges Ergebnis unserer Forschung nimmt direkten Bezug auf die Gesetzeslage: In der angewandten Schweizer Gesetzgebung steht das Ausländer- und Integrations-gesetz (AIG) über internationalen Verträgen und der Schweizer Bundesverfassung. Das Recht auf Wohnen (UNO Pakt 1, Art. 11) und der Anspruch auf Hilfe von Personen in Not (Schweizer Bundesverfassung, Art. 12) klammern die staatlichen Behörden bei Sans-Papiers aus. Der Aufenthalt von Sans-Papiers in der Schweiz ist nach dem AIG (Art. 115) rechtswidrig, ebenso wie jegliche Hilfeleistungen an Sans-Papiers, insbesondere die Unterstützung bezüglich der Suche von Wohnraum (Art. 116).

Sans-Papiers werden so systematisch diskriminiert und Unterstützungsformen kriminalisiert. Dadurch entstehen deutliche Widersprüche innerhalb der Gesetzeslandschaft.​

 

Weitere bedeutende Widersprüche bestehen zwischen den Rechten, die Sans-Papiers theoretisch zustehen, und dem praktisch erlebten Wohnalltag: Bei jeder Wendung an Behörden, etwa einer Antrag-stellung oder Anklage, droht ihnen eine Verhaftung und Ausweis-ung. Deswegen haben sie de facto keinen Zugang zur Justiz, was auch in anderen Bereichen des Lebens sehr problematisch ist. So kann ein:e Sans-Papiers beim Abriss des Mietobjekts beispiels-weise nicht wie die Nachbar:innen eine Mieterstreckung fordern, sondern muss in der Unsichtbarkeit bleiben und neuen Wohnraum finden. Dieser rechtliche Schwebezustand führt dazu, dass Sans-Papiers ständig Risiken ausgesetzt sind. Das kann zu starken Ab-hängigkeiten und psychischen Auswirkungen führen, wie beispiels-weise Angstzuständen.

 

Zusammenfassend wird deutlich, dass die restriktive Schweizer Gesetzgebung das Wohnen für Sans-Papiers erschwert. Sans-Papiers sind deshalb darauf angewiesen, sich in informellen Grau-bereichen zu bewegen, um sich zu schützen. In den Interviews hat sich gezeigt, dass teilweise eine ‘selektive Toleranz’ ausgehandelt werden kann: Es gibt informelle Absprachen und Kooperationen zwischen Organisationen, solidarischen Privatpersonen und Sans-Papiers. Hilfe und alltägliche ‘invisible politics’ von diesen Akteur:innen schaffen somit sicherere Räume und verleihen politi-schen Anliegen Ausdruck, etwa dem einer kollektiven Regularisie-rung. Diese Strategien funktionieren jedoch nur, solange die einzelnen direkten und indirekten Unterstützungshandlungen in einem informellen Rahmen geschehen – ansonsten drohen (migrations-)rechtliche Konsequenzen. ​

 

Weitere Informationen über die Ergebnisse dieses Projekts finden Sie in diesem Artikel, der im Tsüri Magazin veröffentlicht wurde.

▲ Abbildung 1: Zürich im stetigen Wandel (Quelle: J. Wunderle)

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