
Temporalität: Zwischen Chance und Prekarität
Der Einfluss von zeitlicher Befristung auf Zwischennutzungsprojekte in der Stadt Zürich
Eva Planzer, Seraphine Pfeifer, Mithushana Kunaratnam, Elias Bertel, Jan Krummenacher, Juni 2025
Im Rahmen des Forschungsprojekts «Stadt auf Zeit II» des Geographischen Instituts der Universität Zürich haben wir die Auswirkungen der zeitlichen Befristung auf Zwischennutzungen in der Stadt Zürich untersucht. Unser Team, bestehend aus Masterstudierenden verschiedener Fachrichtungen der Geographie, konzentrierte sich vor allem auf ein charakteristisches Spannungsfeld für temporärer Nutzungen: Einerseits die Chance auf Innovation und Flexibilität, andererseits die resultierende strukturelle Prekarität, die von Planungsunsicherheit und existenziellen Sorgen geprägt ist. Unsere Forschungsfrage lautete daher: «Was ist die Bedeutung von Temporalität für sozio-kulturelle oder politische Projekte in Zwischennutzungen in der Stadt Zürich?» Anstatt uns auf eine blosse Zustandsbeschreibung zu beschränken, analysierten wir die subjektiven Erfahrungen, Strategien und Herausforderungen der Nutzerinnen und Nutzer, um so die Ambivalenz von Temporalität zwischen Chance und struktureller Unsicherheit besser zu verstehen.
Methoden
Für unsere Forschung haben wir fünf semi-strukturierte Interviews mit Vertreter:innen von Zwischennutzungen in der Stadt Zürich geführt. Unser Projekt untersuchte einerseits Zwischennutzungen in städtischen Liegenschaften, die oft durch die städtische Raumbörse vermittelt werden, wie die Autonome Schule Zürich (ASZ), ein Bildungsprojekt für Migrant:innen, die Zentralwäscherei (ZWZ), ein grosses Kultur- und Veranstaltungszentrum oder die Hardgutbrache. Andererseits konnten wir auch Einblicke gewinnen in nicht-städtische Zwischennutzungsprojekte wie Josephine’s Coiffeursalon oder den Park Platz, auch “Parki” genannt, ein nicht-kommerzieller Begegnungs- und Kulturort.
Alle Interviews wurden transkribiert, systematisch kodiert, und zu übergeordneten Themen zusammengefasst, um übergreifende Aussagen zur Beantwortung unserer Forschungsfrage abzuleiten. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden zudem für einen Radiobeitrag bei Radio LoRa aufbereitet, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und den teilnehmenden Projekten eine Plattform zu bieten.
Ergebnisse
Die Untersuchung der Bedeutung von Temporalität für sozio-kulturelle und politische Projekte in Zürcher Zwischennutzungen hat ein facettenreiches und ambivalentes Bild gezeichnet. Die zeitliche Befristung ist weit mehr als nur eine vertragliche Rahmenbedingung, sondern ein wesentliches Element, das die Nutzungen prägt. Sie prägt die Identität, die Kultur und die Handlungslogik dieser Projekte von Grund auf und bewegt sich in einem permanenten Spannungsfeld zwischen Chance und Prekarität.
Die Chance der Temporalität liegt in ihrer ermöglichenden Kraft. Sie senkt die Hürden für Partizipation, fördert kreative und unkonventionelle Lösungen und wirkt zu Beginn als starker Katalysator für kollektives Engagement. In einem Interview kam zur Sprache, dass es schon deutlich schwieriger wäre Leute für eine permanente Nutzung zu finden. Sich nur kurzzeitig verpflichten zu müssen, sei für die Mobilisierung klar ein Vorteil. Zwischennutzungen schaffen somit Freiräume für Experimente, die im durchgeplanten und kommerzialisierten städtischen Raum sonst kaum existieren könnten. Für viele der untersuchten Projekte war die Ausschreibung eines temporär verfügbaren und frei gestaltbaren Raumes die eigentliche Initialzündung für ihre Existenz.
Die Kehrseite dieser Medaille ist die strukturelle Prekarität. Die ständige Unsicherheit über die Zukunft hemmt langfristige Planungen und Investitionen, was die Projekte in einem Zustand des ewigen Provisoriums hält. Sie zehrt oft an den Kräften der Engagierten und erfordert psychologische Bewältigungsstrategien, zum Beispiel die bewusste Ignoranz des bevorstehenden Endes. Längerfristig kann die gewonnene “Sesshaftigkeit” paradoxerweise zu einem Verlust an Mobilisierungskraft und zu internen Konflikten über die Ausrichtung und Institutionalisierung des Projekts führen. Eine beispielhafte Aussage zu einem politischen Projekt war:
Wegen der Sesshaftigkeit gehen viele Aktivist:innen verloren. Wir haben keine Probleme mehr! Wenn du keine Probleme hast... ist es ihnen egal.
Die Projekte sind gefangen in einem Dilemma: Die temporäre und prekäre Situation mobilisiert Unterstützung, doch gerade die Überwindung der Prekarität kann die ideellen Grundlagen schwächen.
Unsere Interviewpartner:innen erwähnten verschiedene kollektive Herausforderungen, von finanzieller Not über die Gefahr der Institutionalisierung bis hin zum ambivalenten Verhältnis zur Stadtverwaltung, die sowohl Förderin als auch Kontrollinstanz ist. Diese sind oft eine direkte Folge dieser temporalen Grundverfassung der Zwischennutzungen. Die Projekte navigieren beständig zwischen dem Wunsch nach Autonomie und der Abhängigkeit von externen Faktoren, zwischen dem Erhalt des radikalen Projektcharakters und den Notwendigkeiten eines geordneten Alltagsbetriebs.
Die Organisator:innen der Projekte haben gelernt, mit dieser Ambivalenz zu leben und kreative Strategien des Überlebens zu entwickeln. Sie zeigen, dass gerade im Provisorischen und Unfertigen ein grosses Potenzial für soziale Innovation und städtische Vielfalt liegt.
Radiobeitrag Radio LoRa
▲ Der Radiobeitrag zur Bedeutung von Temporalität in Zwischennutzungsprojekten wurde am 18.6.2025 bei Radio LoRa ausgestrahlt.
https://www.lora.ch/radio/ausgaben/imfo-lora-2025-06-18